Wäre es denkbar, dass manche LehrbuchautorInnen den Bezug zu allen Klassenzimmer-Realitäten verloren haben? Keine Ahnung mehr haben, welche Grammatik auf welchem Niveau verdaubar, welcher Wortschatz zumutbar ist? Wir kommen einer positiven Antwort auf diese Frage näher, wenn wir anhand einer Gegenüberstellung von Lehrbuch-Wortschatzauswahl und gleichzeitigem tatsächlichem Wortschatzbedarf in einem wichtigen Bereich der DaF-Didaktik illustrieren, wie groß der Realitätsverlust tatsächlich ist. Wir sind in Aspekte B2, Lektion 2., 1. Teil, S. 114. Auszug aus der Wortschatzliste zu Lektion 2.
der Artgenosse – der Tonfall – das Körpersignal – monolingual – belanglos – das Geschäftsleben – der Gesprächsstoff – naheliegend – nichtssagend – die Erziehungsfrage – die Konfliktlösung – der Verlauf – die Unstimmigkeit – die Plauderei
Dann unter „wichtige Wortverbindungen“:
die Augen verdrehen – auf die lange Bank schieben – Kritik austeilen – Kritik einstecken – auf Nummer sicher gehen – jmd in die Schranken weisen
Es ist erfahrungsgemäß schwierig, Leuten, die vom Sprachenlernen und -lehren keine Ahnung haben können, wie zum Beispiel die für diese Wortschatzauswahl Verantwortlichen, klarzumachen, was an einer solchen Lernliste so schlimm ist. Es sind doch bloß harmlose Wörter. Und wenn jemand partout der Ansicht ist, dass alle Wörter gleich sind, dass es keine guten und bösen unter ihnen gibt, oder dass früher oder später sowieso alle gelernt werden müssen und es auf die Reihenfolge nicht so ankommt – dann haben Diskussionen nicht viel Zweck.
Dabei braucht man sich nur wenigstens ansatzweise Klarheit über den Umfang des zu erlernenden Vokabulars zu verschaffen und diesen dann in Beziehung zum maximalen täglichen Lernzuwachs zu setzen, der unter zehn Einheiten liegen dürfte. Die Lernliste oben wirft den Lernenden drei bis vier Tage zurück.
Wir wissen ja mittlerweile ganz gut Bescheid über das Innenleben und die Ansprüche unseres Wortschatzprozessors. Beim Sprachenlernen will er Bedeutungsvolles, stößt alles ab, was keinen Sinn macht, behält nur, was semantisch verknüpft und bezogen ist; überhaupt geht es höchst vernetzt zu, das Adjektiv ist mit Antonym zu lernen und das Verb natürlich im Satzkontext usw. Und solchen neueren Einsichten hat man sich natürlich sogleich bemüht didaktisch Rechnung zu tragen, und vor lauter Freude über diese Einsichten eine früher schon bestehende völlig vernachlässigt, nämlich die, dass eben nicht alle Wörter gleich sind, zumindest nicht gleich „wichtig“.
Man hat also neuen Wortschatz methodisch völlig up to date präsentiert und gleichzeitig keinen Gedanken mehr auf Relevanz des Präsentierten verschwendet. Gleich wie ausgefallen und niederfrequent das Adjektiv – ohnehin unter den Wortarten die entbehrlichste -, es muss mit vielleicht noch seltenerem Antonym gelernt werden, weil das eben mal der methodischen Weisheit letzter Schluss ist.
Mit Fragen, wie der, ob womöglich bestimmte Wörter in bestimmten Texttypen frequenter sind, befasst sich erst recht niemand. Könnte es sein, dass in (populär-)wissenschaftlichen Texten alles, was mit Kausalitäten zu tun hat (führen zu, liegen an, auslösen, verursachen …), deutlich häufiger auftritt als in literarischen Texten und daher beim Aufbau des produktiven Wortschatzes solchen weit vorzuziehen ist? Ist denkbar, dass die in Lehrwerken und Prüfungen so beliebten Lesetexte aus dem Zeitungs-Feuilleton deshalb völlig ungeeignet sind, weil es im Feuilleton bekanntlich weniger aufs Inhaltliche als auf das Sprachspielerische ankommt, daher entlegenster Wortschatz usw. verwendet wird?
Und so weiter und so weiter. Schauen Sie sich ein x-beliebiges Lehrbuch durch und Sie müssen zu der Überzeugung kommen, dass die VerfasserInnen solche Fragen wahrscheinlich nicht nur nicht gestellt haben, nicht nur nicht beantworten könnten, sondern nicht mal verstehen würden.
Werfen wir zum Schluss einen Blick auf die Tafel in einem B2-Klassenzimmer von heute Morgen. Folgende Wörter waren für die meisten TN neu:
schuld / Schuld – das Mitleid, Mitleid haben mit – der Kompromiss – der Konflikt – zu zweit – eventuell – verschieben – schnell gehen (etwas geht schnell) – es eilig haben
Vielleicht schaffen wir es, mit geduldigem Wiederholen in den kommenden Tagen, dass davon nächste Woche noch die Hälfte da ist. Das ist nämlich tatsächlich wichtiger Wortschatz, auf den wir nicht verzichten können. Und das sind die Realitäten in einer durchschnittlichen B2-Intensiv-Klasse. Vielleicht versteht man jetzt besser, weshalb ein Lehrer in einer solchen Klasse, wenn er auf S. 114 von Aspekte neu B2 ankommt, die Augen verdreht, aber bis zum Anschlag.