Und was nicht.
Viele schöne Zimmerpflanzen schmücken unser Klassenzimmer, die auch gepflegt sein wollen; wenigstens ab und zu gegossen. Von wem? Es gibt keine Regeln. Wer grade dran denkt, gießt. Das Problem bei einer solchen anarchischen Nichtregelung ist, dass man nie weiß, ob schon gegossen wurde oder nicht. Also muss man mit dem Finger prüfen, wie feucht die Erde ist.
Neulich prüfen ich und ein Teilnehmer gleichzeitig und verkünden gleichzeitig das Ergebnis – nur nicht das gleiche. „Trocken“, sagt er, „gießen!“ – „Feucht“, sage ich, „braucht nix.“
So etwas ist merkwürdig. Wer darf hier „seinen Sinnen nicht trauen“?
In Geschmacksfragen ist man an so etwas gewöhnt. Dem einen gefällt die moderne Kunst, der anderen nicht. Die eine mag kein Bier, der andere trinkt nichts lieber. Für solche Differenzen fallen uns beliebig viele Beispiele ein. Sie beunruhigen uns gewöhnlich nicht sehr.
Aber dass auch der Tastsinn, oder überhaupt das Sensorium, mit dem wir den Zugang zur Welt der Tatsachen herstellen, von solchem Relativismus bedroht ist, erstaunt uns.
Wenn wir uns nicht mehr darüber verständigen können, in was für einer Welt wir leben: in einer mit trockenen oder feuchten Zimmerpflanzen; mit einer gefährlichen Pandemie oder einer leichten Grippe; mit menschengemachtem Klimawandel oder bloß den üblichen Wetterkapriolen; mit massiver Wahlfälschung oder nicht – dann stellt sich leicht das Gefühl ein, verschiedenen Spezies anzugehören, die voneinander durch unüberwindliche Barrieren getrennt sind. Was gar nicht gut ist in Zeiten, in denen vielleicht nur die eine Menschheit imstande wäre, die Welt zu retten. Aber was tun?
Sicher wäre es gar nicht so schwer, schließlich doch irgendwie Konsens herzustellen. Mit der Zeit würde man schon herausfinden, was der andere – und die Zimmerpflanzen – unter „feucht“ oder „trocken“ verstehen. Man müsste nur grundsätzlich bereit sein, sich miteinander zu verständigen – man müsste nur wollen.
Das allerdings, der gute Wille, die prinzipielle Verständigungsbereitschaft, ist in einem friedlichen kleinen DaF-Klassenzimmer mit freundlichen und wohlwollenden TeilnehmerInnen viel eher anzutreffen als auf einem großen, unfriedlichen Planeten.
Man kann sich also von den Zimmerpflanzen, bzw. einem sehr speziellen Problem, das der kollektive Umgang mit ihnen gelegentlich aufwirft, sicher zu interessanten Überlegungen anregen lassen; aber die Lösungen müssen wir bei uns selber finden. Von der Natur kann man eben nichts lernen.
ATL (Bernhard von Clairvaux)
ATL (Voltaire)