Corona und der Erlkönig

Upgedatete Interpretation eines berühmten Gedichts.

Der Erlkönig von J. W. Goethe ist eines der bekanntesten deutschen Gedichte und – erfreulicherweise – zugleich eines der auch für Deutschlernende am einfachsten zu verstehenden. Man muss nur vorab ein bisschen seltenen oder veralteten Wortschatz klären und kann dann die TN selbständig mit dem Text arbeiten lassen. Der bietet sich für eine interessante Gruppenaufgabe an.

Die TN sollen nämlich zunächst herausfinden, welche Gedichtzeilen zu welchen Personen im Gedicht gehören. Es gibt einen Erzähler, einen Vater, einen Sohn, und natürlich einen Erlkönig. Anschließend sollen sie es dann mit verteilten Rollen lesen; wobei vielen zum ersten Mal deutsche Verse über die Lippen kommen.

Und was ist ein Erlkönig? Eine Figur aus einem alten Märchen oder Mythos. Wir brauchen das nicht so genau zu wissen. Im Gedicht wird klar, dass dieser Erlkönig eine Art Geist ist, und zwar ein ziemlich gefährlicher Geist.

Die Anfangszeilen des Gedichts sind berühmt:

Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?
Es ist der Vater mit seinem Kind.

Goethes Erlkönig

Das Kind, mit dem Vater auf dem Pferd unterwegs und in seinen Armen geborgen, sieht plötzlich einen Geist, eben den Erlkönig. Aber der Vater glaubt ihm nicht und findet für alles, was das Kind sieht, eine natürliche Erklärung.

Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht?
Den Erlenkönig mit Kron und Schweif?
Mein Sohn, es ist ein Nebelstreif.

Der Sohn hört den Erlkönig sprechen, aber der Vater meint, es sei nur der Wind in den Blättern. Der Sohn sieht Erlkönigs Töchter, aber der Vater behauptet, es seien nur alte Bäume.

Ich habe das Gedicht, eben weil es so einfach und leicht didaktisierbar ist, schon oft im Unterricht behandelt. Einmal hat sogar ein Teilnehmer, der völlig vom Erlkönig fasziniert war, eine tiefsinnige Interpretation dazu vorgetragen. Ich bedaure heute noch, dass davon kaum ein Wort zu verstehen war. Das ist doch eine zu schwierige Aufgabe für B2, oder man müsste sich sehr viel Zeit nehmen.

Eine Interpretation mit aktuellem Bezug

Aber die Erinnerung daran hat mich jetzt inspiriert, selbst eine tiefsinnige, aber leichter zu verstehende Interpretation vorzutragen. Der Vater ist darin ein Kritiker der Corona-Schutzmaßnahmen. Er will nicht akzeptieren, dass die Welt nicht mehr in Ordnung ist. Er will in einer guten, normalen Welt leben, in der es zwar eine Grippe gibt, aber kein bösartiges Virus, das den ganzen Planeten in den Ausnahmezustand versetzt. Er akzeptiert unzählige Epidemietote, um in seinem Glauben an eine gute, stabile Welt nicht gestört zu werden. Er erklärt alles für normal und natürlich, um sich nicht davor fürchten zu müssen.

Ebenso hält er es beim Klimawandel. Der Vater wird ihn noch leugnen, wenn ihm das Wasser bis zu den Knien steht. Das Kind ist schon ganz blau angelaufen, aber der Vater sieht immer noch Bäume und Nebelstreife. Er zieht die Katastrophe dem Katastrophenbewusstsein vor. Er will einfach nicht wahrhaben, dass es böse Geister gibt, die seinen Sohn …

Übrigens: Was will der Geist eigentlich von seinem Sohn? Wenn Sie jetzt noch nicht neugierig auf dieses Gedicht sind – werden Sie es nie mehr.

Der Erlkönig bei der Oregon State University

ATL

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert