Wie man mit ansteckendem Irrationalismus fertig wird – im Klassenzimmer und anderswo.
Die „Wechselpräpositionen“ sind eigentlich kein sehr schwieriges Thema. Das Prinzip ist in ein paar Minuten erklärt. Bestimmte Präpositionen können je nach Funktion zwei Kasus haben: den Akkusativ, wenn sie zu einer Richtungsangabe (wohin?) gehören, den Dativ, wenn sie zu einer Ortsangabe (wo?) gehören. Ich hatte in zwanzig Jahren nie Schwierigkeiten, dem Kurs die Wechselpräpositionen zu erklären. Natürlich muss man dann viel üben, und es kann lange dauern, bis die richtigen Formen auch beim Sprechen schnell abrufbar sind. Aber wie gesagt: zu verstehen gibt es hier wirklich nicht viel.
Nur einmal, ein einziges Mal, war auch dieses Wenige noch zu viel.
Zu Anfang geht alles gut. Links an der Tafel steht wo, rechts wohin, dann werden Beispielsätze eingeordnet usw. Manche schreiben mit. An der Tafel steht bald alles, was man über die Wechselpräpositionen zu wissen braucht. Und wie gesagt – viel ist das nicht. Das scheinen auch die TN so zu empfinden, die ganz zufrieden gucken, etwas Neues gelernt zu haben. Jetzt sind sie auf die Übungen gespannt, die ich angekündigt hatte. Nur ein TN guckt nicht zufrieden. „Ich verstehe das nicht“, sagt er.
Ich frage ihn, was er nicht versteht. – Das. – Ja was genau? – Alles. – Ein paar von den anderen lachen. Ein paar andere dagegen gucken plötzlich so skeptisch. Ich mache einen Rekapitulationsversuch, der aber zu noch mehr skeptischen Blicken führt. Ich schlage vor, zunächst die Übungen zu machen, um das Problem aufzufinden. Aber das nützt nichts mehr. Wie – so sagen mir die verfinsterten Mienen meiner TNInnen -, wie sollen wir was üben, was wir nicht verstanden haben? – Wieso wir? denke ich. Grade war noch alles klar. Allen, außer einem. Und jetzt ist plötzlich allen nichts mehr klar? Was ist hier los?
Kann Nichtverstehen ansteckend sein? Kann man sich Verstehen nur einbilden, um dann einzusehen, dass man in Wahrheit gar nichts verstanden hat? Oder könnte überhaupt das Verstehen nur auf Ansteckung beruhen? Sie müssen zugeben, dass solche Fragen nicht uninteressant sind. Aber auch ziemlich schwierig, und ich kann dazu im Moment nicht viel Kluges sagen. Ich kann Ihnen nur sagen, was man in solchen Situationen am besten tut – und was z.B. auch Politiker in den USA oder in Deutschland am besten tun sollten, wenn sie mit durchgeknallten Trumpisten und Verschwörungstheoretikern usw. zu tun haben. Auch nicht uninteressant, oder?
Mir ist nämlich diese Verstehenskrise, die sich vor vielen Jahren einmal im Klassenzimmer ereignet hat, nur deshalb im Gedächtnis so präsent, weil mich die politischen Ereignisse der letzten Jahre immer wieder daran erinnerten. Wenn ein Lehrer mit einer bisher von allen Lernenden akzeptierten Erklärung nicht mehr durchdringt, ist das so ähnlich, wie wenn Politiker mit universal akzeptierten Rationalitätsstandards kein Gehör mehr beim Volk – d.h. bei Trumpisten und Corona-Leugnern u. dgl. – finden. Zu den Ursachen kann ich auch hier nichts Originelles sagen; aber sagen will ich Ihnen jetzt endlich, was man dagegen tun kann. Jedenfalls gegen Wechselpräpositions-Leugner.
„Moment mal, meine Damen und Herren“, sprach ich nämlich mit fester Stimme, „was soll das alles? Hier steht, was man wissen muss, und jetzt wird geübt. Punkt.“ Und tatsächlich: mit diesem lehrerlichen Machtwort war der Bann gebrochen, der Spuk verscheucht. Man beugte sich über Bücher und Hefte, übte, und verstand. Sogar der ursprüngliche Infektionsherd, als er bemerkte, dass alle anderen wieder normal geworden waren, machte murrend die Übungen und war irgendwann so weit zu glauben, dass auch er die Wechselpräpositionen begriffen hatte. Vielleicht per Ansteckung.
So sähe auch die politpädagogische Antwort aus, die man sich für Verschwörungstheoretiker, Klimaleugner, Trumpisten, gewisse HeilpraktikerInnen, ja sogar manche Nazis wünschte. Man kann und soll nicht immer „die Sorgen der Menschen ernst nehmen“, wenn diese sich benehmen wie Kleinkinder, oder vom Teufel Besessene; man kann nicht immer „mit den Menschen ins Gespräch kommen“, wenn sie das Minimum an Rationalität verwerfen, das schon Voraussetzung für Small-talk übers Wetter ist. Gegen ein hochansteckendes Hirn-Virus kann so etwas nicht helfen. Da hilft nur ein bisschen schwarze Pädagogik – oder ein kleiner Exorzismus.