Wie man aus Texten das Beste macht.
Was tun Sie, wenn Sie einen Text gelesen und vielleicht die Fragen dazu beantwortet haben? Sicher dasselbe wie die meisten Deutschlernenden, nämlich das Buch zuklappen und den Text, mit allen Fragen und neuen Wörtern, so schnell wie möglich wieder vergessen. Wenn Sie das für den einzig angemessenen Umgang mit Lesetexten halten, brauchen Sie den Rest dieses Artikels nicht zu lesen; bzw. sollten Sie unbedingt den Rest dieses Artikels lesen – je nachdem, ob Sie sich „eines Besseren belehren“ lassen wollen – oder nicht.
Grundsätzlich: Man sollte das erste Lesen und Verstehen immer nur als Einstieg in die Beschäftigung mit dem Text verstehen; die eigentliche Arbeit geht danach erst los.
Arbeit mit dem Text heißt nach meiner Auffassung zuallererst: über den Text sprechen. Egal was, egal mit wem: den Text zum Konversationsthema machen ist immer eine gute Übung. Geben Sie ihn einer Lernpartnerin zu lesen und diskutieren Sie ein wenig darüber, oder klären Sie gemeinsam Unverstandenes oder Schwieriges, oder befragen Sie sich gegenseitig zu Teilinhalten; oder berichten Sie jemandem, der den Text nicht kennt, den Inhalt, beantworten Sie Fragen dazu …
Es geht dabei überhaupt nicht darum, perfekte Zusammenfassungen zu machen, erst recht nicht darum, Teile des Textes wörtlich wiedergeben zu können. Es geht, um es am einfachsten und anschaulichsten zu formulieren, um ein Spiel mit dem Text, mit seinen Inhalten und Wörtern. Spielend lernt man bekanntlich am besten. Allerdings: obwohl Spielen eigentlich ganz einfach ist, muss man vielleicht etwas üben, bis man gelernt hat, auch mit Texten zu spielen.
„Einmal ist keinmal“ heißt ein beliebter Spruch. Also holen Sie den Text am nächsten Tag oder ein paar Tage später wieder heraus und tun das Gleiche noch mal, oder etwas Ähnliches, also noch mal berichten, diskutieren … – spielen.
Irgendwann werden Sie aber auch etwas systematischer mit dem Text umgehen wollen. Zwar haben Sie sich „spielend“ wahrscheinlich schon ein paar Ausdrücke daraus angeeignet, aber der wichtige Lernstoff daraus sollte irgendwann – gleich beim ersten Lesen oder später – auch in geeigneter Form notiert werden. Hier nur stellt sich die Frage aller Fragen: Was ist „wichtiger Lernstoff“?
Sie können sich darauf verlassen, dass Ihnen die miserablen DaF-Lehrbücher unserer Tage nicht dabei helfen werden, einen Text unter diesem Gesichtspunkt auszuwerten. Also brauchen Sie entweder gute Lehrer, die dazu imstande sind, oder Sie müssen selbst nach und nach ein Gespür dafür bekommen. Deutsche MuttersprachlerInnen, die nicht vom Fach sind (= nicht Lehrer sind), werden Ihnen kaum dabei helfen können. Kein Mensch macht sich Gedanken über Relevanz, Wichtigkeit, Nützlichkeit der Wörter seiner eigenen Sprache. Wozu auch?
Dabei ist es so schwer auch wieder nicht, sich an ein paar Prinzipien zu orientieren, die einem bei der Auswahl wichtigen Vokabulars helfen. Manches wüssten Sie auch schon selbst. Welches der beiden Wörter ist wichtiger: trinken oder stricken? Das erste natürlich, weil es eine sehr viel häufiger ausgeübte Tätigkeit bezeichnet. Das ist ein Kriterium für Wichtigkeit.
Ein zweites, formales: Wenn Sie sich erinnern, einem Wort schon häufiger begegnet zu sein, ist es sicherlich auch wichtiger.
Ein drittes, wieder inhaltliches. Es gibt bestimmte basale „Konzepte“, die durch eine Vielzahl ähnlicher Wörter ausgedrückt werden können. Für das Konzept „können“ z.B.: in der Lage sein, imstande sein, fähig sein … Oder für das Konzept „Wichtigkeit“: bedeutend sein, eine Rolle spielen, Wert legen … Und für „sein“ in seinen verschiedenen Bedeutungsvarianten noch mehr: existieren, sich befinden, darstellen, sich handeln um … Für „passieren“ vielleicht sogar noch mehr: vorkommen, kommen zu, geschehen, eintreten, vorfallen … Es geht nicht darum, alle diese Teil-Synonyme in korrekter Abgrenzung richtig verwenden zu können; man sollte sie aber unbedingt alle verstehen können.
Am wichtigsten ist aber, dass Sie sich überhaupt klarmachen, dass nicht alle Wörter gleich wichtig sind und dass man sich beim Lernen lange Zeit auf die wichtigen beschränken muss. Man kann ja nicht beliebig viele Wörter lernen, und bis zu den Prüfungen ist meistens zu wenig Zeit.
Eine andere Frage ist dann, auf welche Art man die Wörter, die man als wichtige den Lesetexten entnommen hat, am besten lernt. Dazu finden Sie in anderen Beiträgen hier und in meinen Büchern viele Hinweise.
Als drittes sollte man natürlich auch auf die „Strukturen“ von Texten, auf interessante Konstruktionen darin, also auf die „Grammatik“ achten und vielleicht etwas davon notieren und lernen. Und viertens ist es auch sehr sinnvoll, sich die inhaltliche Gliederung von Texten immer wieder klarzumachen. Fragen Sie sich zum Beispiel immer, welche Funktion ein Absatz hat, welchen Beitrag er zum Gesamtinhalt leistet: Stellt er eine Einleitung dar, listet er nur Beispiele auf, formuliert er Gründe oder Folgen … Das ist das Einzige, womit man auch in Lehrwerken gelegentlich rechnen kann, aber meistens in unangemessener oder viel zu schematischer Weise.
Überhaupt ist vielleicht im gegenwärtigen Augenblick der beste Rat, den man für den Umgang mit Lesetexten geben kann, dieser: Tun Sie alles mit dem Text, nur das nicht, was sich die LehrbuchmacherInnen dazu ausgedacht haben. Oder lassen Sie sich von dem Unfug, den man heute als Textarbeit bezeichnet, wenigstens nicht von einem vernünftigen, Ihr Repertoire bereichernden Umgang mit Texten abhalten.