Die schöne Europa und was noch folgte.
„Warum Europa?“ ist also ein Buchtitel, mit Untertitel: „Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs“. Aber die Frage lässt sich auch anders komplettieren, z.B.: „Warum heißt Europa Europa?“ Die Antwort, das haben wir schon angedeutet, findet man im Nahen Osten.
Europa war nämlich der Name einer schönen Prinzessin aus dem alten Phönizien. Sie war eins der vielen Opfer des griechischen Göttervaters Zeus. Der sah sie am Strand, verliebte sich in sie und verwandelte sich listigerweise in einen schönen Stier. Europa sah den Stier, verlor bald ihre Furcht, setzte sich sogar auf seinen Rücken. Der Stier entführte sie, durchs Meer schwimmend, nach Kreta, wo sie dann „eine Familie gründeten“. Jedenfalls bekam Europa ein paar Kinder vom Obergott.
Man sieht das Paar Europa und Zeus / Stier sehr oft als Illustration zu Medienberichten mit EU-Bezug; sogar auf einer Euro-Münze sind die beiden verewigt. Natürlich ist immer die gleiche Szene dargestellt: Europa auf dem Rücken des Stiers im Meer.
Bleibt noch die Frage Warum nicht Europa? Auch diese kann man unterschiedlich verstehen. Zum Beispiel: Warum kennt jede Europäerin und jeder Europäer die Geschichte von der Entführung der Europa – aber niemand sonst? (Das ist, wie gesagt, meine Unterrichtserfahrung.) Interessiert sich wirklich niemand mehr für uns und unsere Geschichte als wir selbst? Aber das wäre noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste ist, wie immer, DaF in Deutschland.
Sidon, die Stadt des Königs Agenor, dessen Tochter die mythologische Europa war, lag im Phönizien der Antike und liegt heute südlich von Beirut im Libanon; Luftlinie etwa 100 Kilometer von der syrischen Hauptstadt Damaskus entfernt. Warum nutzt man nicht solche Gelegenheiten, eine wenigstens mythologisch-historische Beziehung zu Ländern herzustellen, aus denen bekanntlich viele Menschen nach Deutschland kommen? So etwas schafft Gemeinsamkeiten, nähert Horizonte an, überwindet Fremdheit. Und man kann leicht anknüpfen. Europa ist nämlich nicht reine Mythologie.
Zeus landet ja mit seiner schönen Last auf Kreta. Kreta war aber tatsächlich das Tor, durch das die Kultur des Alten Orients zu uns gelangte; auf dieser Grundlage hat sich die erste eigenständige europäische Hochkultur entwickelt. Das war in der Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr.
Von hier aus ging’s dann langsam weiter zu den klassischen Griechen, etwa ein Jahrtausend später – den Griechen von Zeus und family, von Odysseus und der schönen Helena, von Sokrates und Plato, Aristoteles und Hippokrates.
Und von diesen waren viele auch von großer Bedeutung für die Entwicklung einer arabischen Philosophie und Medizin. Eine Teilnehmerin aus Syrien hielt vor einiger Zeit ein kleines Referat über den berühmtesten arabischen Arzt, Ibn Sina, in Europa als Avicenna bekannt. Auch der hatte einen großen Teil seiner Weisheit von den alten Griechen, vor allem vom berühmtesten, Galen, und hat sie dann verdienstvollerweise an das europäische Mittelalter weitergegeben.
Derartige West-Ost-Bezüge finden sich zu Hauf: Harun Al-Raschids Geschenk an Karl den Großen, die Kreuzzüge, Saladin und Lessings „Nathan der Weise“, „Die Entführung aus dem Serail“ von Mozart wie auch seine „Zauberflöte“ mit ihrem Freimaurer-Sarastro (Zarathustra), Goethes „West-östlicher Divan“ – bis hin zum Jom-Kippur-Krieg im Nahen Osten und den folgenden autofreien Sonntagen im Westen. Gibt es einen guten Grund dafür, dass solche Themen überhaupt nicht aufgegriffen und in DaF-tauglicher Weise bearbeitet werden?
Jetzt sollen Sie aber endlich erfahren, was die Titel-Frage wirklich bedeutet. Nämlich: Warum (sollte historisches Wissen über Beziehungen zwischen dem Nahen Osten und) Europa (nicht für Deutschlernende aus dieser, aber auch anderen Regionen interessant sein)? Bzw.: Warum (befasst sich) nicht (DaF viel mehr mit solchen interessanten Themen aus der Geschichte von) Europa?