Oder: extrem(istisch)e Komplexitätsreduktion
Alle nur ein wenig komplexeren Abläufe oder Situationen lassen sich auf vielfältige Weise beschreiben. Von einem gemeinsamen Waldspaziergang werden zwei Menschen ziemlich unterschiedliche Berichte geben. Zwei Beschreibungen derselben Straßenszene fallen sicher verschieden aus. Und wenn erst noch Wertmomente ins Spiel kommen, werden aus perspektivischen Differenzen leicht konfliktträchtige Meinungskonstraste. In der Frage zum Beispiel, ob eine gegebene soziale Ordnung gerecht ist, also alle Mitglieder der Gesellschaft fair behandelt, wird sich niemals Einigkeit erzielen lassen. Keine Beschreibung der Gesellschaft wird je allseits konsensfähig sein, und wenn sie es wäre, könnten sich doch nie alle auf eine gemeinsame Beurteilung des gegebenen Zustands verständigen.
Was es durchaus geben kann, ist aber ein Konsens im Negativen, also solche Beschreibungen, die für jedermann erkennbar inadäquat sind. Jedenfalls glaubte man das bis zur Präsidentschaft Trump. Aber selbst Trump und seine Fans würden, im Konsens mit allen AmerikanerInnen, kein Bild akzeptieren, in dem ihr Land als von Nomadenstämmen durchzogene Steppe dargestellt ist – auch wenn es einzelne „Nomaden“ auf vier Rädern geben mag.
Es muss also doch Beschreibungen von Gesellschaften geben, die näher bei der Wahrheit sind als andere, auch wenn man diese – die Wahrheit – nie ganz zu packen bekommt. Ob bestimmte Beschreibungen akzeptiert werden, hängt aber nicht nur von ihrer Realitätsnähe ab. Auch ziemlich absurde Lagebilder haben Chancen, sich durchzusetzen, wenn sie nur gewisse Bedürfnisse eines bestimmten Adressatenkreises befriedigen.
Die allerprimitivsten von diesen „Narrativen“ findet man im rechten ideologischen Lager. Das politische Geschehen stellt sich dort als Daseinskampf eines Kollektivs dar, nämlich der sogenannten „Deutschen“, die aber mit real existierenden Menschen des 21. Jahrhunderts nichts zu tun haben. Man denkt sie sich eher nach dem Muster eines alten Germanenstammes. Ihre politische Umwelt bilden andere, feindlich gesinnte Mächte – damals die Römer oder andere Völker oder die Götter, heute die Eliten, das System, die Altparteien, die Juden, die EU, Bill Gates usw. Diese zusammen oder ein paar davon sorgen mit allen möglichen unfairen Mitteln dafür, dass „die Deutschen“ gegenüber allen anderen bei jeder denkbaren Gelegenheit benachteiligt und übervorteilt werden. Vor allem stopfen die Götter usw. nämlich den Ausländern alles mögliche hinten rein, was „den Deutschen“ vorenthalten wird. So kriegen sie, die „Ausländer“ also (in Anführungszeichen, weil auch diese, so wie die Rechten sie darstellen, mit real existierenden Menschen nicht das Geringste zu tun haben), viel leichter eine Wohnung oder einen Job und leben überhaupt, wahrscheinlich dank ihrer Götter- oder Eliten- oder Bill-Gates-Nähe, trotz und mit ALG 2 wie im Paradies.
Man erkennt leicht, wie angenehm solche „Komplexitätsreduktion“ fürs Gemüt / die Psyche ist. Erstens ist man geborgen in der eigenen, verfolgten Gruppe, gehört so richtig innig wo dazu. Zweitens steht man im Zentrum der Welt, da ja alle Feinde ständig den Blick auf einen geheftet haben, als wären es lauter hypnotisierende Schlangen um ein armes Kaninchen herum. Schließlich braucht man für die eigene Misere kein Quentchen Verantwortung zu übernehmen, weil man ja gegen die Übermacht der Anti-„Deutschen“-Verschwörung ohnehin nicht die geringste Chance hat. „Die Deutschen“ sind also ein völlig imaginäres ideologietriefendes Kunstprodukt einerseits, ein unübertreffbarer geistig-moralischer Komfort- und Wellnessort andererseits, und gehören insofern eigentlich in die Trivialliteratur bzw. in die Bewegungstherapie, haben sich aber leider in die Politik bis hinein in den deutschen Bundestag verirrt.