Und lässt es sich überhaupt erklären?
Kein anderer Begriff ist im DaF-Unterricht mit Nicht-Westlern so schwer zu erklären wie der der political correctness. Die Schwierigkeit stammt daher, dass etwas, was es überall gibt, was aber anderswo niemandem Kopfzerbrechen bereitet oder Anlass zu Disputen gibt, im Westen eine massive politische Aufladung hat. „PC“ ist seit über dreißig Jahren Gegenstand hitzigster Debatten, und die Haltung zu PC-Fragen erlaubt einigermaßen zuverlässig die ideologische Verortung eines Menschen.
Wir verzichten auf alles Systematische oder Historische und geben als Einstieg in die komplexe Problematik nur ein Beispiel. Allerdings nicht für political correctness, sondern für einen bewussten Verstoß dagegen. Dazu machen wir einen kleinen Umweg, wie immer durchs Klassenzimmer.
Also: Im Klassenzimmer sitzen 14 TeilnehmerInnen, darunter, ganz vorne links, A. aus Kenia, die in Berlin Medizin studieren will. Und dann lesen wir zusammen einen Tweet von einem Ost-CDUler („Ossi“).
Schwarzfahrer bleiben für mich Schwarzfahrer, als Ossi sage ich weiterhin Negerkuss. Und ich verwahre mich davor dafür als Rassist bezeichnet zu werden. Irgendwann ist auch mal gut – wir haben wahrlich andere Themen und Herausforderungen, auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Maik Penn, CDU, auf Twitter laut Tagesspiegel
Bevor ich noch einen Kommentar geben kann, fragt A. aus Kenia, seit wann man verwahren mit Präposition vor verwendet, und ob danach nicht wenigstens ein Komma stehen müsste. Sie hätte so formuliert: Ich verwahre mich dagegen, deshalb zum Rassisten gestempelt zu werden. Dann hätte man nicht die unschöne Abfolge davor dafür oder auch dagegen dafür, und eine elegantere Konstruktion.
Tatsächlich ist verwahren eins der fehleranfälligsten Verben im Deutschen, aber nicht, weil die Muttersprachler die Präposition nicht erinnern können, sondern weil sie es mit wehren verwechseln. Deshalb hört man oft: Er verwehrte sich dagegen …
Die Präposition zum Verb nicht zu kennen, ist allerdings etwas bedenklicher und kommt sonst bei Muttersprachlern nicht oft vor. Ebenso befremdlich ist, dass ein Muttersprachler nicht hören kann, was das Wort Neger alles in der Beifracht hat. Gewöhnlich haben wir nämlich für diese wertende Komponente der Wortbedeutung ein sehr gutes Gespür. Aber man kann eben dieses nur irgendwie Mitschwingende nicht aus dem Wort herauspräparieren und wie eine Sache vorzeigen. Man kann nur darauf hinweisen, dass MuttersprachlerInnen gewöhnlich den Unterschied zwischen Köter und Hund, Karren und Auto, Itaker und Italiener, Schwuchtel und Homosexueller ohne Weiteres erfassen.
Und man kann außerdem versuchen, sich Effekt deutlich vor Augen zu führen, der mit der Wortverwendung eintritt. Wenn ich in Gedanken A. aus Kenia, die eben den Satz von Herrn P. verbessert hat, als „Negerin“ bezeichne, wird sie mir plötzlich ganz fremd (wie ich mir selbst). Wie in ein Kostüm gesteckt, das heute niemand mehr trägt. Das war früher, als Schwarzafrikaner tatsächlich noch als Angehörige einer anderen „Rasse“ betrachtet wurden, als etwas Fremdes und natürlich den Weißen Unterlegenes. Und ist definitiv nicht die Welt, in der wir leben.
Es ist aber sehr wohl die Welt, in der ich großgeworden bin. Man braucht sich nur irgendeinen Abenteuerfilm aus den Sechzigern oder Siebzigern anzuschauen, in dem Menschen in Afrika als Halbaffen oder eben als „Wilde“ dargestellt sind. Oder in anderen Genres eben die jeweils passenden anderen Klischees bedienen müssen, aber nie einfach nur Menschen sein dürfen. (Ebenso wie damals homosexuelle Männer grundsätzlich als „Tunten“, als effeminierte Hinternwackler dargestellt wurden.)
Je dis hurrah! La vieille négritude progressivement se cadavérise.
Aimé Césaire, 1935
Ich sage auch hurra – wie schön, dass das vorbei ist! Dass wir, oder die meisten von uns, aus dieser engen, rassistisch, chauvinistisch, homophob verseuchten dumpf-stickigen deutschen Provinzkleinbürgerwelt herausgefunden haben. Das ist eine der allererfreulichsten, sogar beglückendsten politisch-weltanschaulichen Entwicklungen, die sich während meiner bisherigen Lebensspanne von knapp sechs Jahrzehnten ereignet haben.
Aber es ging ja tatsächlich nicht um die négritude, die Menschen, sondern um die Negerküsse. Macht das einen Unterschied? Warum sollte es? Wenn es keine „Neger“ mehr geben sollte, dann auch keine „Negerküsse“. Stellen Sie sich die Peinlichkeit vor, wenn ich in meiner Klasse – mit A. aus Kenia – „Negerküsse“ verteilen würde.
In der Praxis ist es schon kaum möglich, Wilhelm Buschs Mohrengeschichte zu lesen, sogar auf Jim Knopf hinzuweisen, ist schon ein bisschen problematisch, weil es einfach so unangenehm ist, die color line, die Hautfarbe, überhaupt noch ins Spiel zu bringen.
Wahrscheinlich haben noch immer viele Menschen wenig Gelegenheit, sich in solchen Situationen zu erproben. Aber es gehört wirklich nicht viel Fantasie dazu, sich hineinzuversetzen. Und das ist sehr zu empfehlen, bevor man sich zur „Negerkuss“-Frage und Ähnlichem äußert.
Mit solchen Aufforderungen ist natürlich bei Politikern wie Herrn P. nichts auszurichten. Die Versuchung ist zu groß. Ein Wort genügt, um bei den eigenen Leuten zu punkten, indem man die anderen vor den Kopf stößt – die schwarzen Menschen, die immer wieder deutlich machen, dass sie das N-Wort als herabsetzend empfinden. Es geht also ganz und gar nicht um den „gesellschaftlichen Zusammenhalt“, ganz im Gegenteil: Es geht darum, im eigenen reaktionären Lager Zusammenhalt zu stiften, indem man „Minderheiten“ ausgrenzt, herabsetzt … Das alte Konzept der Rechten. In Ungarn ist einer der widerwärtigsten Kerle in der europäischen Politik seit 1945 im Begriff, eine Volksabstimmung gegen Homosexuelle für seine Nazipolitik zu nutzen. (Und die deutsche Bundeskanzlerin schaut dem Spuk seit Jahren ungerührt zu.)
Fragen wie diese bestimmen also die PC-Debatten der letzten Jahrzehnte. Um Ihnen auch die Kehrseite vorzuführen, hier der Plot eines Romans von Philipp Roth („The Human Stain“). Ein Universitätsprofessor fragt seine Studenten, ob sie von noch nie in der Veranstaltung erschienenen Kommilitonen wüssten – oder ob diese „spooks“ seien. Das Wort steht für Gespenst, aber man kann damit auch Afroamerikaner bezeichnen. Zufälligerweise handelt es sich bei den Absentisten um ebensolche. Als alles bekannt wird, verliert der Professor seinen Job.
Das also ein Beispiel für einen fiktiven PC-Exzess, von denen es auch in der Realität einige geben soll. Aber sicher nicht genug, um gleich die ganze Sache in Frage zu stellen. PC hat sich große Verdienste im Kampf für eine anständigere Welt erworben und wird das hoffentlich auch weiterhin tun.