Gibt es eine „moralische Anlage“ im Menschengeschlecht?
Es kommt nicht oft vor, dass ein DaF-Kurs mit der gleichen Zahl von Teilnehmern über die Ziellinie geht, mit der er begonnen hatte. Unterwegs verliert mancher die Lust oder muss aus irgendwelchen Gründen umdisponieren. Aber dass man auf halbem Weg mit nur noch einer Teilnehmerin dasitzt, passiert auch nicht oft. Ich weiß nicht mehr, wie es in meinem Kurs im Herbst 2010 zu einem solchen Schwund gekommen war. An die verbleibende Teilnehmerin erinnere ich mich dafür umso besser, und nicht nur, weil sie zwangsläufig im Zentrum meiner Aufmerksamkeit und Zuwendung stand.
Es war nämlich eine junge Französin mit tunesischen Wurzeln, mit der ich damals, in den letzten Wochen des Jahres, Unterricht machte. Und das waren zufälligerweise die Wochen, in denen die tunesische Revolution ins Rollen kam, nachdem sich ein verzweifelter junger Mann selbst verbrannt hatte.
Wir haben natürlich über die Ereignisse in der alten Heimat meiner Teilnehmerin gesprochen und ich erfuhr einiges Interessante über Tunesien – wie zuvor schon über das muslimische Leben in Frankreich. Aber warum es jetzt zu einem Volksaufstand kam, konnte sich meine junge Teilnehmerin auch nicht erklären. Jedenfalls haben wir beide lebhaft Anteil daran genommen. Ebenso wie viele andere Menschen in Deutschland und überall auf der Welt. Als die Revolution auch auf Ägypten übergriff, gab es kaum noch ein anderes Gesprächsthema. Nichts war interessanter als abends im Fernsehen „Ägypten gucken“.
Ich bin damals zum Alexanderplatz geradelt, wo es einen Flaggenladen gab. Ein tunesisches und ein ägyptisches Fähnchen waren zu kriegen, aber kein syrisches. Die Kundschaft bestand nämlich hauptsächlich aus Fußballfans, und Syrien spielte keine Rolle im Weltfußball. Ich musste mich mit einem mit den syrischen Farben bedruckten Kärtchen begnügen. Die Fähnchen stellte ich ins Fenster und für den syrischen Flaggenersatz fand ich auch irgendeine schöne, solidarische Verwendung.
Etwas Moralisches in uns
Einige Jahre später hatte ich einen Kurs mit syrischen Flüchtlingen, dem ich von diesen eigenen und gesamtdeutschen Reaktionen erzählte. Die Teilnehmer wollten wissen, woher meine Anteilnahme am revolutionären Geschehen kam. Darüber hatte ich aber noch gar nicht nachgedacht und musste improvisieren. Ich sagte, es sei schön gewesen zu erleben, dass Menschen aus anderen Kulturen unsere Werte teilen. Dass sie an Freiheit, Selbstbestimmung, Demokratie glauben und bereit sind, dafür zu kämpfen.
Das ist natürlich erst der Anfang einer befriedigenden Antwort. Um eine bessere zu bekommen, müsste man nicht nur in sich selbst, sondern auch in die einschlägige Literatur gucken. Vielleicht z.B. in die Werke von Immanuel Kant. Unser großer Philosoph lebte in einer Zeit, in der man zum ersten Mal Erfahrung mit solchem Revolutions-Enthusiasmus sammeln konnte. Damals, ab dem Jahr 1789, in dem die Französische Revolution stattfand, ließen sich die Deutschen von diesem gewaltigen Drama jenseits des Rheins faszinieren. Und Kant sah in ihrer Begeisterung einen Beweis dafür, dass im Menschen etwas Moralisches ist; sozusagen ein moralisches Organ, das auf die revolutionären vibrations aus dem Nachbarland reagierte.
Und was hat Trump damit zu tun?
In den letzten Jahren, ganz besonders in den letzten Wochen, war es fast genauso spannend, „Trump zu gucken“, wie damals Ägyten. Und man könnte sogar meinen, dass das Interesse an den Untaten des Präsidenten und seiner Anhänger ähnlich motiviert ist wie der Arabellions-Enthusiasmus. Aber kann dann Kant noch recht haben? Dann müssten wir annehmen, dass Empörung über Unmoral uns ebenso als moralische Wesen bestätigt wie Anteilnahme an den heroischen Taten der Freiheitskämpfer.
Oder ist die Kantsche Erklärung falsch, oder jedenfalls nicht mehr zeitgemäß? Geht es nicht um Moral, sondern bloß ums Spektakel, nur darum, dass etwas los ist, dass wir dem faden Alltag entkommen? Ich finde diese Fragen sehr interessant, aber auch sehr schwer zu beantworten. Es geht ja dabei um die Motiviertheit unserer politischen Einstellungen, vielleicht um die Wurzeln unseres Gerechtigkeitssinns, die sicher weit in die Tiefen der Persönlichkeit hinabreichen. Fragen wir am besten noch einmal bei Kant selbst an. Vielleicht haben wir nur nicht gründlich genug gelesen.
Die Revolution eines geistreichen Volks, die wir in unseren Tagen haben vor sich gehen sehen, mag gelingen oder scheitern; sie mag mit Elend und Greuelthaten dermaßen angefüllt sein, dass ein wohldenkender Mensch sie, wenn er sie zum zweitenmale unternehmend glücklich auszuführen hoffen könnte, doch das Experiment auf solche Kosten zu machen nie beschließen würde, – diese Revolution, sage ich, findet doch in den Gemüthern aller Zuschauer (die nicht selbst in diesem Spiele mit verwickelt sind) eine Theilnehmung dem Wunsche nach, die nahe an Enthusiasm grenzt, und deren Äußerung selbst mit Gefahr verbunden war, die also keine andere als eine moralische Anlage im Menschengeschlecht zur Ursache haben kann.
Immanuel Kant
-> ATL