Über Fremdwörter und schwierige Situationen.
Wissen Sie, was ein Dilemma ist? Menschen aus dem Westen meinen oft, die griechischen oder lateinischen Fremdwörter in ihren Sprachen würden überall auf der Welt verstanden; tatsächlich sind aber viele davon nicht über die europäischen Sprachen hinausgewandert, also keineswegs international. Als Englisch sprechender Mensch wüssten Sie natürlich, was ein Dilemma ist (nämlich ein dilemma); aber als des Englischen nicht mächtige Chinesin oder Ägypterin sicher nicht.
Das Dilemma ist aber nicht nur ein wichtiges Wort – von dem die richtige Lösung im Prüfungsteil Leseverstehen abhängen kann -, sondern auch ein wichtiges Phänomen, mit dem sich jeder früher oder später auseinandersetzen muss. Vor allem in schwierigen Zeiten wie unseren; da gerät man nämlich leicht hinein, ins Dilemma.
Als vor über dreißig Jahren das Kernkraftwerk Tschernobyl in der (damals sowjetischen) Ukraine in die Luft flog, wohnte ich mit zwei sympathischen Kommunistinnen in einer WG. Zwei Tage nach dem GAU (dem Unfall) kamen sie mit Kopfsalat und polnischen Pilzen nach Hause – obwohl alle Experten vor dem Verzehr von frischen Sachen aus Wald und Garten warnten. Sie hätten verseucht, also radioaktiv verstrahlt sein können.
Meine Mitbewohnerinnen waren damals so von der universalen Wahrheit des Sozialismus überzeugt, dass sie eine „bürgerliche“ Experten-Wahrheit einfach nicht ernstnehmen wollten. Das war vielleicht reichlich doof, aber immerhin nicht verantwortungslos gegenüber anderen Menschen. Denn radioaktiv verseuchter Kopfsalat ist (hoffentlich) nur für diejenigen gefährlich, die ihn essen, und nicht für die, die daneben am Küchentisch sitzen.
Anders ist es, wenn z.B. Eltern entscheiden müssen, ob sie ihre Kinder impfen lassen, oder Corona-Skeptiker, ob sie eine Maske tragen sollen. Von ihren Entscheidungen sind andere mitbetroffen. Wenn ein Mensch glaubt, dass Covid 19 bloß eine Grippe ist, die keine einschneidenden Maßnahmen rechtfertigt, muss man das akzeptieren. Wenn aber jemand gemäß dieser Überzeugung leben will, wird die Sache problematisch. Hält er sich nicht für unfehlbar, sollte er eigentlich in ein Dilemma geraten. Was die ignoranten und infantilen Corona-Leugner so besonders unsympathisch macht, ist, dass sie sozusagen nicht dilemma-fähig sind. Obwohl sie natürlich wissen, was ein Dilemma ist – wie jetzt hoffentlich auch Sie.
Einen sehr prägnanten Kommentar zu solchen Fragen hat schon vor vierhundert Jahren der unübertreffliche „Essayist“ Michel de Montaigne gegeben. -> Tödliche Mutmaßungen (ATL)