Neulich war eine TNin stolz und happy, weil sie, Zitat, „zum ersten Mal einen ganzen Text verstanden“ hatte. Ich bin ganz schön erschrocken. Erzählen Sie das bloß keinem, sagte ich. Wenn das ein DaF-Didaktiker hört!
Eigentlich hätte sie in vier Monaten Deutschunterricht kapieren können, dass so etwas nicht mehr geht. Bei uns gibt es „Globalverstehen“, „Detailverstehen“ und „selektives Verstehen“. Aber nicht „Text verstehen“ – das haben zuletzt die ewig-gestrigen Späthumanisten im Lateinunterricht praktiziert, oder der Religionsunterricht – aber nicht wir modernen DaFler.
Was tun wir stattdessen? Wir jagen, bildlich gesprochen, unsere Teilnehmer, mit einer Taschenlampe ausgestattet, im Dunkeln durch unermessliche Texträume, von denen sie immer nur den nächsten halben Quadratmeter zu sehen kriegen. Damit kann man globales, selektives und detailliertes Verstehen bewerkstelligen, wobei man aber nicht glauben sollte, dass Globalverstehen viel damit zu tun hat, dass ein globales Textverstehen erzielt wurde, dass detailliertes Verstehen bedeutet, dass alle – oder auch nur einige – Details verstanden wurden. Eigentlich geht es nämlich immer nur darum, sich nach gründlichem Drill in einem bestimmten, „Globalverstehen“ usw. überschriebenen Prüfungsformat zu bewähren.
Dass sie jemals eine Gesamtvorstellung von ihrer texträumlichen Umgebung bekommen, sich darin orientiert fühlen, die Abmessungen und inneren Bezüge erkennen können, ist dagegen überhaupt nicht vorgesehen.
Wozu auch, fragt sich jeder, der die DaF-Ideologie der letzten vierzig Jahre verinnerlicht hat. Sie brauchen ja bl0ß Globalverstehen, Detailverstehen … aber doch nicht „Textverstehen“, was man heute als ganz neue Fertigkeit in den DaF-Unterricht einführen könnte. Ich bin überzeugt, dass die Hälfte der heutigen Sprachkurs-Absolventen das Glück, einen ganzen Text zu verstehen, noch nie genossen hat.
Aber wie kam es eigentlich dazu, dass die irregeleitete TNin einen ganzen Text verstanden hat? Dadurch, dass wir uns dreimal so viel Zeit dafür genommen haben, wie uns die LehrbuchautorInnen zugestehen wollen.